Der anonyme Junge in Uniform
Dass die Geschichtserzähler Menschen einander näherbringen, davon konnte ich mich bei zahlreichen Gesprächen, Ausflügen und Themenabenden mehrmals überzeugen. Ich war Zeuge von Lachen und Weinen beim gemeinsamen Durchstöbern der privaten Fotoalben, von rotangelaufenen Gesichtern bei kollektiven Erinnerungen an bestimmte Orte und Menschen aber auch von gemeinsamen Tanzen und Spielen zu verschiedenen Jahreszeiten. Diese Emotionen und Erlebnisse, die alt und jung, Frau und Mann, ehemalige und heutige Bewohner der Niederstadt miteinander verbinden, spielten sich jedoch, im gewissen Sinne, neben mir ab. Und das obwohl ich ja einige Jahre in diesem „Geschichtserzähler-Viertel“ arbeitete und viele Freunde gewann. Tja, ich wohnte ja nie vorher in der Niederstadt, hatte keine Familie oder Bekannte dort und meine erste Kontaktaufnahme mit dem Viertel fand erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre statt. Und selbst dieser Kontakt war eher sporadisch und meistens bedingt durch mein Studium (ein Besuch im Ärztehaus in der Große Schwalbengasse war Pflicht vor den Semesterprüfungen), oder noch öfter durch meine Fahrten nach Elbing, die über die Ost-West-Tangente führten.
Mit der Zeit jedoch lernte ich die Niederstadt immer besser kennen und verstehen. Und so fing ich auf natürliche Art und Weise an, meine eigene lokale Geschichte zu schreiben, indem ich mich bei den Projekten der hiesigen Geschichtserzähler engagierte. Es war mir aber immer noch zu wenig. Auf den Archivaufnahmen interessierten mich am meisten die Häuser, weil ich mich mit ihnen berufsbedingt am besten identifizieren konnte. Menschenporträts, die bei anderen für Emotionen sorgten, waren für mich zu anonym. So versuchte ich meine persönliche Niederstadtgeschichte mit den Erinnerungen meines Vaters zu untermauern, der in den 60er Jahren als Jugendlicher nach Danzig kam, am Karrenwall zur Schule ging und auch die Badeanstalt in der Große Schwalbengasse besuchte. Er besuchte auch oft die Familie seines Vaters, die in der Nähe vom Wallplatz wohnte und die ich selbst nicht mehr kennenlernen konnte.
Es gelang mir auch nie, meinen Vater zu irgendwelchen, ehrlichen Erinnerungen oder selbst einem gemeinsamen Ausflug in die Niederstadt zu bewegen. Es fehlte uns im Gewühl der Pläne und Pflichten immer die Zeit oder auch der Wille dazu. Heute ist es leider zu spät dafür, weil wir letztes Jahr den Kampf mit seiner Krankheit verloren. Und alles schien damit verlorengegangen zu sein…
Zu unserem eigenen Erstaunen erkannten wir auf einem der Bilder meinen Vater, den Titeljungen in Uniform. Und die beiden Herren, die uns das Bild brachten, kannten ihn nicht nur, sondern haben sich auch als meine weiteren Cousins entpuppt. Es waren die Eltern der beiden Herren und der neuentdeckten Verwandten, die meinen Vater damals unterstützten, indem sie ihn immer wieder zum Mittagessen einluden und zu den Elternsprechstunden in seine Schule gingen.
Das konnte mich doch nicht kaltlassen.
Drei Wochen später, in der Wohnung meiner Mutter, trafen wir uns mit den zwei neuen Cousins und mit weiteren Familienangehörigen, die sich vorher auch nicht kannten bzw. seit Jahren keinem Kontakt mehr hatten. Das Treffen hätte unterschiedlich enden können, dabei fanden die 10 Personen, denen anfangs nur der Familienname gemeinsam war, jede Menge gemeinsame Gesprächsthemen und als es sehr spät wurde, verabschiedeten sie sich herzlichst voneinander. Ich denke, dass heutzutage, wo wir für nichts mehr Zeit haben, es uns schwer fällt einander zu mögen geschweige denn miteinander zu kommunizieren, ein solches Treffen sehr aufbauend war. Und nun ganz privat, zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester freuten wir uns darüber, dass durch die uns unbekannten Erinnerungen anderer Menschen, mein Vater wieder ganz konkret mit uns dabei war.
Wir danken Euch, Geschichtserzähler!
Erstes Bild kommt von Elżbieta Woroniecka, das zweite von Artur Wołosewicz. Quelle: Sobiecka L., Kaliszczak M. (ed.), Gdańsk – Dolne Miasto. Dokumentacja historyczno-urbanistyczna, PP Pracownie Konserwacji Zabytków Oddział w Gdańsku Pracownia Dokumentacji Naukowo-Historycznej, Gdańsk 1979. Das dritte und wichtigste Bild stammt aus dem Familienalbum von Herrn Ryszard Barański.