Hexenhaus – Weihnachten am Hühnerberg 9

In der Vorweihnachtszeit war die Atmosphäre am Hühnerberg 9 immer ganz besonders. Nicht nur, dass es dann immer in der Wohnung nach Bratäpfeln duftete, die die Oma in dem alten Kachelofen zubereitete, sondern – im Gegensatz zu den meisten Nachbarn – haben wir immer einen Adventskranz gehabt. Mit jeder angezündeten Kerze rückte der Besuch des Weihnachtsmannes näher. Da wir auch noch Verwandte in Westdeutschland hatten, erhielten wir auch regelmäßig Pakete, auf die wir speziell in die Adventszeit mit besonderer Spannung warteten. Während man in der Wohnung meiner Mutti, als sie gerade nicht anwesend war, alle Schränke und Ecken durchsuchen konnte, war es bei der Oma während eines Besuches nicht mehr so leicht möglich. Aber gerade dadurch war die Überraschung am 24. Dezember umso größer. Und so jedes Jahr, wenn der Lorbas – also ich – am Heiligabend zusammen mit seiner Mutti Rosi kam, war die Atmosphäre zwischen den Altdanziger Möbeln, Kerzen, duftenden Piroggen, Karpfen und anderen Leckereien, wie immer unvergesslich.

Auf dem Tisch stand neben dem Gedeck für jeden sein eigener bunter Teller mit Süßigkeiten. Die Oma nahm mich dann in das kleine Zimmer neben an, um am Fenster Ausschau nach dem ersten Stern zu halten. Während dessen wurde die Tür zum großen Salon, aus welchem Grund auch immer, zugemacht. Zum Glück erblickte meine Oma den Stern, unabhängig davon wie bewölkt der Himmel gerade war, ziemlich schnell, und ich – obwohl ich sonst immer alles genau wissen und hinterfragen musste – war diesbezüglich sehr leichtgläubig der Oma gegenüber und glaubte ihr aufs Wort. Schließlich ging es in dem Fall nicht um Fakten sondern um die Zeit. Dann nämlich kam der große Moment, dem man seit Wochen entgegenfieberte: die Tür ging auf und ich erblickte mit leuchtenden Augen den relativ kleinen Tannenbaum mit roten Paradiesäpfeln. Und neben ihm, am Fenster und auf dem Danziger Schrank ….lagen die heißbegehrten Pakete vom Weihnachtsmann. Selbstverständlich waren die meisten von ihnen für mich gedacht. Und so eines Jahres erwartete mich in der größten Schachtel ein Hexenhaus. Außerdem gab’s noch Legosteine, Modellautos, Filzstifte und Süßigkeiten. Anschließend nahm ich all meine Geschenke mit auf meinen Platz, neben Oma auf dem Sofa, denn dort gab es mehr Platz, um sie alle aufzustellen. Und dann begann erst das Festmahl: leckere Piroggen (die meisten davon mit Fleischfüllung und ein paar wenige ohne Fleisch, die jedoch von der Oma mit Petersilie gekennzeichnet wurden, damit sie ja keinen davon erwischt), Wurst, Gemüsesalat, Karpfen, Sülze und vieles mehr. Dies war jedoch immer noch nicht alles. Es gab ja noch die Süßigkeiten auf den bunten Tellern. Nach dem Abendessen gab es immer Kaffee und Kuchen, selbstgemachten Lebkuchen, Türkischhonig aus Deutschland, Marzipan, Dominosteine und die seit Wochen von allen gemeinsam gebackenen Weihnachtsplätzchen… und dabei immer das Bewusstsein, dass der Abend immer noch nicht zu Ende ist, all diese schönen Geschenke die ganze Zeit danebenliegen und man sie zwischen den Leckerbissen von Marzipan, Kuchen und anderen Leckereien nicht nur anschauen, sondern auch noch anfassen kann. Um Mitternacht sollte man theoretisch zur Mette gehen, genauso wie man auch am Heiligabend Piroggen ohne Fleischfüllung essen sollte… doch man konnte auch auf andere Weise den Höhepunkt des besonderen Abends betonen und feiern. Und so kam um Mitternacht bei uns die Torte auf den Tisch, natürlich als Nuss oder Schokovariante mit richtiger Butterkreme, in die die Oma für den besonderen Kick immer ein bisschen Halva beimischte…. Sogar jetzt beim Schreiben dieses Artikels läuft mir das Wasser im Mund zusammen und wie es aussieht, laufe ich gleich in die Konditorei oder beiße zumindest ein großes Stück Schokolade ab, denn wie es die Oma zu sagen pflegte: Süßigkeiten dürfen ja nicht schlecht werden und müssen deshalb schnell aufgegessen werden.
Und dazu noch Eierlikör…

Da bin ich nun richtig ins Schwärmen geraten und hab dabei das eigentliche Thema des Artikels vergessen: Das Hexenhaus. Und dieses Hexenhaus hat es ja in sich gehabt. Es war nicht nur einfach zum Rausnehmen und Aufstellen, nein nein. Das Haus war aus Pappe und musste erst zusammengebaut werden. Anschließend musste Zuckerguss zubereitet werden, mit dessen Hilfe man all diese schönen Lebkuchen und Kekse an die Wände des Hauses kleben konnte. Die größte Herausforderung dabei war es, der Versuchung zu widerstehen den einen oder anderen Keks bei der Arbeit zu vernaschen, doch zum Glück übernahm Mutti die Aufgabe der Bauaufsichtsbehörde und es noch die bunten Teller gab. Ohne meine allerliebste Mutti hätte ich es nie geschafft und auch Weihnachten wäre ohne sie niemals so schön gewesen, denn alle Kuchen und Gerichte wurden zum Teil von ihr selbst zu Hause zubereitet und die anderen von Tante und Oma in ihrer Küche. Die Vorbereitungen liefen ja Wochenlang. Ich kann mich immer noch erinnern wie viel Essen es war. Vor allem Weihnachten 1981, nach der Einführung des Kriegsrechtes, war es besonders schwer von uns in die Niederstadt zu kommen. Und so zog mich meine Mutti mit dem ganzen Essen auf Schlitten entlang des Radaunekanals von Altschottland bis zu Oma am Hühnerberg. Während der ganzen Fahrt hörte man im Hintergrund Schüsse aus der Innenstadt hallen. Und meine arme Mutti musste nicht nur mich, sondern auch noch die Unmengen an Essen und Paketen die ganze Strecke lang hinter sich ziehen. Glücklicherweise nahm ich meistens erst nach Weihnachten zu 8^)

Doch wie ist das Haus geworden? Es war wunderschön, bunt und voller Lebkuchen. Die Fenster wurden mit rotem Pergamentpapier unterklebt, so dass man das Haus abends von Innen beleuchten konnte. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir zuhause einen kleinen Leuchtturm gehabt, der sich durch die von der Glühbirne kommende Wärme drehte, und den stellten wir da rein, damit die Fenster so schön rot strahlen. Eine traumhaft schöne Zeit war es damals, dank unserer Freunde in Deutschland und der eigenen Familie, die all die Probleme des Alltags auf sich nahm, um uns Kindern die Zeit so schön wie möglich zu gestalten. Aber das Schönste an der ganzen Sache ist, dass ich nicht nur so tolle Erinnerungen, sondern nach wie vor auch meine fantastische Mutter habe, dank der alle Weihnachten weiterhin einmalig und unvergesslich sind. Und noch schöner ist es zu wissen, dass sie all das auch mit Euch allen, Danzigern aus der Niederstadt, Jahr für Jahr, teilt und es mit ihrem einmalig großen HERZEN macht.

Text: Andreas Kasperski.

Alle abgebildeten Bilder stammen vbom Textautor, nur die Ansicht des Hauses am Hühnerberg 9 wurde von Artur Wołosewicz gemacht. Quelle: Sobiecka L., Kaliszczak M. (ed.), Gdańsk – Dolne Miasto. Dokumentacja historyczno-urbanistyczna, PP Pracownie Konserwacji Zabytków Oddział w Gdańsku Pracownia Dokumentacji Naukowo-Historycznej, Gdańsk 1979.

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